ROMERíA

  • ROMERÍA und das Meer meiner Eltern

    27. September. ROMERÍA, der Film der spanischen Regisseurin Carla Simón, feiert seine Deutschlandpremiere

    auf dem Filmfest Hamburg. Der semi-biografische Film lief im Wettbewerb der diesjährigen Filmfestspiele in Cannes

    und rangiert ganz vorne in den spanischen Kinocharts.

    Der im dokumentarischen Stil gedrehte Film überzeugt durch die überaus authentische Schauspielleistung von Llucia Garcia sowie dem gesamten Cast.

    Llucia Garcia spielt Marina, die Protagonistin in ROMERÍA, so authentisch, dass man bisweilen vergisst, dass es sich um einen fiktionalen Film handelt.

    Die Handlung weicht teilweise von den biografischen Begebenheiten der Regisseurin ab, jedoch stimmen die Grundpfeiler mit Carla Simóns Erlebnissen überein.

    Der Film strukturiert sich wie ein visuelles Tagebuch in Kapiteln einer viertägigen Reise, die Marina (Llucia Garcia) in die Familie ihres an AIDS verstorbenen Vaters führt, den sie nie kennenlernen konnte.

    Wie ihre Mutter starb er wenige Jahre nach ihrer Geburt, als Folge ihrer gemeinsamen Heroinsucht. Marina wächst bei einer Adoptivmutter in Barcelona auf und scheint gut versorgt.

    Das Faszinierende an dem Film ist, wie Simón es in ihrer einzigartigen Ästhetik der Subversivität schafft, jene brutale Härte ihrer Realität, Momente des Schmerzes, mit Sanftheit aufzufangen.

    Marina springt ins Wasser und taucht. Der Schmerz zeigt sich unter Wasser, eben subversiv. In ihrer Einsamkeit lächelt sie, denn sie umgibt eine unbändige Stärke. Sie wird getragen von unendlicher Liebe. Auf dem Segelboot, das wiederkehrende Symbol im Film, umgeben von der Weite des Meeres.

    Marina und ihre Mutter sind symbolisch dieselbe Person und werden beide von Llucia Garcia verkörpert. Marina, 18 Jahre alt, ist eine Version ihrer Mutter, eine gereifte. Die visuellen Tagebucheinträge der Mutter fließen mit den Kapiteln von Marinas Expedition ineinander: ihr Aufenthalt bei der ihr fremden Familie väterlicherseits in dem spanischen Örtchen Vigo, in dem ihre Eltern eine Zeitlang lebten.

    Obwohl sie beide Elternteile nie kennenlernte, scheint für Marina eine tiefe Bindung zu ihrer Mutter zu bestehen, während sie ihrem Vater nur nach und nach durch die Erzählungen näherkommt.

    Es ist spürbar, dass sie sich nach dieser Familie sehnt, um sich ein Stück familiäre Identität zurückzuholen. Warum wollte ihr Vater sie nie sehen?

    Dabei holt sie die Realität der Geschichte ihrer Eltern von Moment zu Moment schmerzhaft ein. Die Familie scheint zerstritten,  und das ausgelebte Bedürfnis nach Freiheit ihrer damals  jungen Eltern, gepaart mit einem entfesselten Hedonismus wirken selbstsüchtig, doch trifft dies eine ganze Generation nach dem Ende der Franco-Diktatur  in einer demokratischen Umbruchphase Spaniens. Drogen überschwemmten das Land. Der jungen Generation waren weder die Folgen noch die Gefahren des Konsums in der Gänze bewusst.

    Freiheit, das Meer und der Bruch mit traditionellen Werten bestimmten ihre Sichtweise.

  • " How many ways could you be young in the 80s?"

    Marina ist weder hasserfüllt noch einsam. Die symbolische Symbiose mit ihrer Mutter vermittelt eine starke Identifizierung, in der sie ihre Perspektive verinnerlicht und gleichzeitig verzeiht.

    Die Schwere, die Marina umgibt, scheint eine Illusion. Und so beginnt auch der Film mit der Perspektive ihrer Mutter in einem auf den Wellen treibenden Segelboot. Sie beschreibt ihre Wahrnehmungen intuitiv, teilweise euphorisch, teilweise mit Zweifeln.

     Marina benötigt die Unterschrift ihres Großvaters für ein Dokument, das sie als rechtmäßige Tochter ihres Vaters anerkennt.

    Mit  ihrem Onkel Lois, der sie herzlich empfängt,  segelt sie sofort eine Runde, dabei ihre Tante und deren drei Kinder. Es ist unbeschwert, doch die Fremdheit der leiblichen Familie und das Verlorene darin liegen spürbar darunter, aber werden mit der Leichtigkeit einer Welle überspült, als wäre nichts gewesen.

    Immer wieder der Blick auf das weiße Hochhaus, in dem ihre Eltern vor ihrer Geburt  wohnten. Ein  Sehnsuchtsort. Ein Verlangen. Umgeben vom Meer.

    Sie erfährt viel von ihrem Onkel, so auch, dass ihre Mutter nach Barcelona zurückwollte, als sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Ihre Eltern trennten sich darauf. Ihre Mutter wollte clean werden. Auch dass ihr Vater viel länger lebte, als sie es annahm.

    Die Großfamilie von Marinas Vater Alfonso, genannt Fon, gehört zur reichen Oberschicht. Ihr Großvater besaß in früheren Zeiten eine große Werft. Die Scham und die Angst um den Verlust des guten Rufs, führten zum Ausstoß Fons.

    Später wurde er sogar versteckt und dafür geschlagen, dass er an AIDS erkrankt war.

  • "Does sharing the same blood make you part of the same family?"

    Die Aufzeichnungen der Mutter und die Reise Marinas verschmelzen ineinander und führen zu einer Offenbarung, die einen nicht mehr loslässt: dass Liebe immer besteht, wenn man sie lässt.

    Jeder ihrer Tanten und Onkel sind  auf ihre Weise egozentrisch, dennoch liebevoll, deren Kinder Marina teils mit Misstrauen, manchmal mit unbedarften Äußerungen, aber auch geschwisterlicher Liebe begegnen.

    Sie experimentieren mit Drogen, die Marina ablehnt. Sie verbindet sich mit ihrem Cousin Nuno (Mitch Martín) , der gleichzeitig ihren Vater im Film spielt.

     Marina sucht die Nähe ihrer Eltern in der Wohnung im weißen Hochhaus. Sie stellt sich ihren Blick auf das Meer vor. Sie besucht das Segelboot ihres Vaters mit einem der Onkels, mit dem ihre Eltern einst nach Peru segelten. Ihre Mutter hatte viele Pläne.

    Marinas  Sehnsucht in den Details des Schiffes so umzusetzen, mit den Blicken der Kamera, Marinas minimalen Gefühlsregungen, das zeichnet den Film aus.

    Es ist das Boot von Junkies, die sich nur um sich selbst drehten und sich pausenlos liebten.

    Die Sucht nach Freiheit bedingt die Entkoppelung zur Realität. Ohne Heroin wäre sie möglicherweise unerreichbar geblieben.

    Die Erzählungen über Marinas Vater zeigen ein entgrenztes und prekäres Dasein in einer patriarchal strukturierten, aber liberalen Familie.

    Die Liebe des Großvaters zeigt sich im Geld, das Marina nicht will. Sie möchte Film studieren, aber mit einem Stipendium.

    Eine Schlüsselszene im Film ist das familiäre Zusammentreffen im Anwesen des Großvaters. Hier offenbart sich, dass Fon vor seinem Tod misshandelt wurde. Der Großvater

    verteilt einen 50-Euroschein an jeden der Enkel. Marina lehnt ihren Umschlag ab.

    Der Wunsch nach dem Einswerden mit den Eltern setzt Simón stilistisch in Traumsequenzen um. Hier werden Marinas Enttäuschung und Sehnsucht bewusst.

    Carla Simón reflektiert mit diesem Film ihre eigene Stärke, von der Liebe ein entscheidener Teil ist.

    Man muss das Ende des Films nicht verraten.

    ROMERÍA ist ein spanisches Volksfest, das Marina mit ihrer Mutter verbindet. Marina  liebt das Meer, genau wie ihr Vater. Von Stella Christine Dunze