YI YI
A one and a two
©rapid eye movies
Narrative der Einsamkeit- Die stille Vergänglichkeit in Yi Yi
YiYi von Regisseur Edward Yang (1947-2007) ist ein Meisterwerk des Weltkinos und kommt ab dem 18. 12. in einer restaurierten 4k-Version in die Kinos.
Der Film wurde von der New York Times als einer der 100 besten Filmen des 21. Jahrhunderts gekürt und gewann im Jahr 2000 bei der Weltpremiere in Cannes den Preis für die beste Regie.
YiYi- A one and a two zeigt anhand des Portraits der taiwanischen Familie Jian, in einer philosophischen Reise den Kreis des Lebens und die Melancholie als einen stillen Begleiter über jedem kurzweiligen Glücksgefühl.
Es ist ein tiefsinniger Film über die Vergänglichkeit, die verlorene Liebe und zerstörte Träume. Edward Yangs meisterhafte Bildsprache verzaubert mit einer stilistisch einzigartigen Ästhetik, die mit eleganter Präzision umgesetzt wurde.
Es beginnt mit den Vorbereitungen einer Hochzeit, für den offiziellen Tag des Glücks, wie ihn der Bräutigam bezeichnet, einem gelangweilt aussehenden Brautpaar, einer Hochzeitsgesellschaft im Park und spielenden Kindern.
Die Oma der Familie Lian sitzt unter einem alten Baum, einem Symbol ewigen Lebens.
Ein Raum mit rosa Luftballons, der kleiner Junge Yang-Yang (Jonathan Chang), der als stiller Voyeur das Leben der Erwachsenen absorbiert und in abstrakte Kunst filtert. YiYi ist ein Film der Gegensätze, die sich ineinander bahnen. Yang zeigt Licht nur des Schattens wegen; eine Geburt für den Zerfall.
Hochzeitsvorbereitungen werden von einer hysterischen Ex-Geliebten gestört, die sich verzweifelt der Großmutter zu Füßen wirft. Das Porträt der zukünftigen Eheleute steht auf dem Kopf. Sie schreit, es sei eine Schande, schwanger zu heiraten.
Yangs Geschichte ist eigentlich eine Geschichte über die Liebe, die nur heimlich existiert, gefangen im Schicksal ewigen Unglücks, ihrer Vergänglichkeit, des Schmerzes und Ausweglosigkeit. Wie das Leben, endet auch sie mit dem Tod.
Während der Hochzeit des Bruders Ah-Di (Chen Hsi-sheng),trifft der verheiratete N.J.(Wu Nien-jen),Vater des kleinen Jungen Yang Yang und einer Tochter Ting Ting (Kelly Lee) im Teenageralter, zufällig auf seine erste große Liebe A-Sui Breitner (Ko Su-yun) in der Lobby des Hotels, wo die Feier stattfindet.
Sie lebt jetzt in den USA, sei verheiratet und geschäftlich in Taipeh und reicht ihm ihre Visitenkarte für ein Treffen. N.J. ist niedergeschlagen. Aufgewühlt fragt sie ihn, warum er damals nicht mehr zu ihr gekommen sei.
Die Stimmung der Hochzeitsgesellschaft ist im Keller, der kleine Yang Yang läuft herum und lässt einen rosa Herzballon platzen. Die Mädchen weinen.
Am „Glückstag” von Ah-Di erleidet die Oma zuhause einen Schlaganfall und muss fortan in der Wohnung der Lians gepflegt werden. Damit sie schnell genesen kann, sollen alle Familienmitglieder ihr jeden Tag am Krankenbett etwas aus ihrem Leben erzählen. Dies erweist sich als schwierige Aufgabe, in dem Bewusstsein, dass nichts wirklich Bedeutendes in ihren Leben passiert.
Familie Lian lebt in einem Hochhaus und Regisseur Edward Yang zeichnet den seelischen Zustand der Bewohner als Abriss einer ganzen Gesellschaft. Dabei gilt der Hausflur als Begegnungsstätte und Zensur. Hinter den Türen verbergen sich familiäre Dramen und Einsamkeit.
Yangs Figuren bewegen sich hinter einer äußeren Fassade. In ihren Wohnungen sind sie allein, im Halbdunkeln. Seine Mise en Scène ist stets eine Komposition der Melancholie im urbanen Raum, die tief berührt und universell ist.
„Man lebt dreimal länger, seitdem das Kino erfunden wurde." Die Filme geben uns doppelt so viel, wie das, was wir täglich erleben."
Auffällig ist, dass es keine Intimität zwischen den Figuren gibt. Die Handlung besteht aus drei verschiedenen Erzählsträngen: das Wiedersehen zwischen N.J. und A-Sui in Japan, das Liebesdreieck von N.J.s Tochter Ting-Ting, ihrer Freundin Lilli und einem Jungen namens Speckbauch und das Liebesglück der neuen Eheleute, das schnell zu bröckeln beginnt.
Yang verzahnt die Liebesgeschichte zwischen N.J. und A-Sui mit der von N.J.s Tochter als bildliche Reinkarnation .
Sie alle sind gefangen in ihren Ängsten und Sehnsüchten und das Unglück erscheint als stetige Wiederholung.
„Du traust dich nie! Du hast mich nie geliebt!"
Mit Bildern von urbanen Bahngleisen, die sich ineinander winden und wieder auseinander gewegen, mit ihren Zügen darauf, symbolisiert der Regisseur beeindruckend den Verlauf des Lebens mit seinen Beziehungen. Jedes seiner Bilder ist eine einzigartige Komposition.
„Oma, warum ist die Welt so anders als in unserer Vorstellung?"
Der Film, der sein 25. Jubiläum feiert, hat an Aktualität nichts eingebüßt. Er spiegelt die verlorene Aufrichtigkeit in einer schnelllebigen, kapitalistischen Gesellschaft wider, in der Liebe ihre Seele verloren hat und zum Statussymbol verarmt. Er ist eine Gesellschaftskritik am modernen Kapitalismus und öffnet das Bewusstsein für die Vergänglichkeit des eigenen Lebens im Zustand ewiger Reinkarnation.
Edward Yang befasst sich mit den existenziellen Fragen des Lebens in einer beeindruckenden Bildsprache. Die Melancholie des Films wird zum Hochgenuss. Yi Yi- A one and a two ist der ideale Ausklang zum Jahresende. Von Stella Christine Dunze
15 LIEBESBEWEISE
AB DEM 4. 12. IM KINO.
IN CHOPINS WALZER eine konstante trauer
Alice Douards meisterhafter Film ist das mutige Manifest einer Liebe, die universell ist.
Vielmehr als eine Komödie ist es ein poetisches Drama. Eine Versöhnung zwischen Mutter und Tochter.
Der Film schert sich wenig um konservative Dogmen, sondern begreift sich selbst wie seine Protagonistinnen:
als Selbstverständlichkeit.
Wie definiert sich Muttersein? Regisseurin Alice Douard hat einen hoch politischen Film gedreht mit einer überragenden darstellerischen Leistung von Ella Rumpf.
Céline Steyer (Ella Rumpf) lebt mit ihrer Frau Nadia(Monia Chokri) im 19. Pariser Arrondissement, im 10. Stock eines Hochhaus Ghettos. Im Film symbolisiert es etwas anderes:
die Eintönigkeit einer ganzen Gesellschaft. Mit Céline und Nadia wird sie bunt und irgendwie glamourös.
Die gleichgeschlechtliche Ehe wurde von der Nationalversammlung legalisiert. Céline erwartet mit Nadia (Monia Chokri), die das Baby austrägt, ein Mädchen, das in einem Monat zur Welt kommt.
Sie sind ein cooles Paar, das selbstbewusst seine Liebe zeigt. Nadia arbeitet als Zahnärztin in einem Krankenhaus.
Der Kampf gegen die Tabuisierung ist ausgefochten. Céline schildert einer Mitarbeiterin des Familiengerichts, dass sie ihre Tochter nach der Geburt adoptieren möchte.
Die Mitarbeiterin versorgt Céline mit Ratschlägen, da das Baby, trotz Ehe, kein automatisches Elternrecht für sie bedeutet. Céline wird als Pionierin des neuen Gesetzes bezeichnet und muss für die Adoption 15 Stellungnahmen, oder Liebesbeweise, nahestehender Personen aus der Familie oder Freundeskreis vorweisen, ebenso Dokumentationen einer Beziehung, wie Familien- oder Urlaubsfotos. Die Personen müssen Célines Eignung für eine verantwortungsvolle Mutter bestätigen.
Célines einzige Familienangehörige, ihre Mutter Marguerite Orgen ( Noémie Lvovsky), ist eine berühmte, egozentrische Größe, die gleichzeitig eine emanzipierte Großbürgerin, in all ihrer freigeistigen Abgehobenheit verkörpert. Sie lebt in einer anderen Welt und versinkt in ihr, zusammen mit Beethoven, Chopin oder Schumann. Eine Flucht vor der Banalität des Lebens. Oder vor jener Mutterfigur, Célines Kindheitstrauma, wenn sie alleine im Hotel bis spät in die Nacht warten musste und dann mit ein paar Erdnüssen abgefertigt wurde. Ihre Fähigkeit, zu lieben, zeigt sich auf eine andere, eigenwillige Art.
Wie Noémie Lvovsky diese Frau spielt, ist eine Faszination.
Nadia und Céline bei Freunden. Sie unterhalten sich über den Samenspender und die Schwangerschaft.
Im Kern geht es nicht nur um 15 Liebesbeweise für Célines Beziehung zu Nadia, sondern auch um 15 Liebesbeweise von Marguerite, wie das Titelbild des Films suggeriert. Douard gelingt es in dieser Vielschichtigkeit eine zweite, viel komplexere Liebesgeschichte zu erzählen: die zwischen Mutter und Tochter.
In dieser kritischen Figur spiegelt sich der Diskurs über das richtige Muttersein wider: Denn eigentlich ist Célines Mutter der Widerspruch zu jeder traditionellen Mutterfigur. Und dennoch, trotz ihre vielen Fehler, die Céline ihr vorwirft, der größte Liebesbeweis.
“Hast du’n Trockner? Ohne den geht's nicht." (Francois)
Céline ist DJ und Tontechnikerin für verschiedene Bands. Der Film lebt von stimmigen, harten Technoszenen, in denen Céline auflegt. Sie sind stimmungsstark und imposant, in denen die Protagonistin Kontrolle und Macht verkörpert.
Ein wunderschöner Schlüsselmoment ist auch, wenn beide Frauen in einem überfüllten Club tanzen und sich ihre Blicke zu "You & Me" von Eliza Doolittle treffen.
Nichts unterscheidet die beiden Protagonistinnen von einem heterosexuellen Paar. Ihre Zweifel und Ängste, ihre Streitigkeiten und ihre Liebe vor der Geburt ihres ersten Kindes sind universell. Ihr Mut und das Risiko, das sie tragen, hingegen nicht. Beide Frauen müssen füreinander alles riskieren.
Ihr Lebensstil wirkt instabil, doch bleibt der Wille für eine gemeinsame Familie die Konstante. Die Alltagssituationen spiegeln ein prekäres Dasein. Dabei lieben sie sich bewusst und hemmungslos. Nadia wirft Céline vor, ihr wildes Partyleben ungestört weiterzuleben, während sie zu Hause alleine hocken muss. Nadias Ängste unterscheiden sich wenig von anderen werdenden Müttern.
Ella Rumpf spielt diese Rolle so herausragend und nuanciert, dass man in ihren Gesichtszügen und feinen Regungen sogar die Gedanken ihrer Figur lesen kann.
Der Wechsel zwischen Hochhauswohnnung und Pariser Stilaltbau ihrer Mutter zeigen, dass die Menschen in ihren unterschiedlichen Milieus nicht pauschalisiert werden können.
Die Dialoge sind witzig, tiefgründig und authentisch.
Und was ist an der Mutterschaft so besonders?
Célines Hetero- Freunde jedenfalls vermiesen beiden Frauen jegliche Illusionen. Da Nadia ihr Baby über einen anonymen Samenspender in Dänemark eingeführt bekam, führt dies zu typischen Diskussionen. Um das Muttersein zu üben, wird Céline ins kalte Wasser geschmissen.
Sie babysittet die Tochter und das Baby ihres Freundes Francois (Julien Gaspar-Oliveri).
Céline bei ihrer Mutter, während sie sich um sie kümmert.
Highlight ist eine Szene in der Wohnung von Francois, als sie in Abwesenheit der Eltern, das Baby baden muss. In diesen Momenten entpuppt der Film sich als Komödie und Douard verzaubert durch ihre
pointierten und feingeistigen Dialoge. Dabei verwandelt Céline das Kinderbett in einen Schlafwagen, weil das Mädchen Bahnhof spielen möchte, und zeigt, dass mütterliches Feingefühl zwar angeboren ist, aber nicht zwangsläufig für ein leibliches Kind.
"Dann richte ihr meine Glückwünsche aus. Es ist toll, schwanger zu sein." (Marguerite Orgen)
Das beweist Marguerite, die sich eigentlich nichts mehr wünscht, als dass Céline das Baby austrägt. Sie geht nach der ersten Euphorie enttäuscht zurück an den Flügel:
„Dann richte ihr meine Glückwünsche aus. Es ist toll, schwanger zu sein." Sagt die Frau, die niemals anwesend war und versinkt gleich wieder in ihre Musik.
Noémie Lvovsky füllt diese Rolle in all ihrer Selbstsucht und Zweischneidigkeit mit absoluter Hingabe aus.
"Ich habe Angst, es nicht zu lieben. Und manchmal denke ich, ich werde es zu sehr lieben." (Céline Steyer)
Céline kümmert sich um ihre Mutter und dadurch baut sich zaghaft, auf teils witzige Weise, eine Annäherung auf. Sie vermutet, dass Céline Geld von ihr braucht: Doch es ist nur ein Schreiben für das Gericht.
15 LIEBESBEWEISE ist ein Meisterwerk der schauspielerischen Leistung und Dramaturgie. Alice Douard provoziert und fordert ihre Zuschauer*innen heraus, über ihre eigenen Vorurteile nachzudenken.
Mit Sicherheit verändert dieser Film auch die Art und Weise, Beethoven zu hören.
15 LIEBESBEWEISE lief auf dem Filmfest Hamburg und gewann den Publikumspreis und hatte seine Premiere auf den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes. Er wurde für die Queer Palm nominiert.
Hauptdarstellerin Ella Rumpf wurde bekannt u.a. durch das Horror-drama RAW (2016) in der Rolle der Alexa sowie die Rolle der Tiger in TIGER GIRL (2017). Zudem ist sie neben Angelina Jolie in dem diesjährigen Film COUTURE (2025) zu sehen.
Wir sprachen im Interview über ihre Rolle in 15 LIEBESBEWEISE und die Dreharbeiten zu COUTURE (2025). Von Stella Christine Dunze
Céline und Nadia spielen in einer Bar Billard. Dabei macht sich einer der Männer über beide lustig.
PATERNAL LEAVE. Drei Tage Meer.
AB dem 27. 11. im Kino
Zwischen uns dein Leben, Flamingos und Meer
Ein mutiger, tiefsinniger Coming-of- Age-Film, der durch die Ehrlichkeit seiner Figuren und feinsinnigen Poetik beeindruckt.
Regisseurin Alissa Jung dreht einen mitreißenden Film, der so liebenswert und schonungslos ist, dass man ihn einfach nicht vergessen kann.
Er ist eine Momentaufnahme einer modernen Familie, die weder romantisierend noch moralisierend ist, sondern vielmehr eine Versöhnung. Dahinter verbirgt sich die Einzigartigkeit und Schönheit der Geschichte. Und darum ist er einer meiner Lieblingsfilme dieses Jahres, mit einer äußerst attraktiven Besetzung.
Das liegt einerseits an der starken Figur Leo, dargestellt von der talentierten Juli Grabenhenrich, aber auch dem italienischen, mehrfach ausgezeichneten Schauspieler Luca Marinelli, der Leos leiblichen Vater spielt, und bereits durch Hollywoodfilme wie The Old Guard (USA, 2020) internationale Bekanntheit erlangt hat. In seiner Zerrissenheit verkörpert er eine authentische Sympathiefigur.
Die Figuren in PATERNAL LEAVE sind deshalb so spannend, weil sie niemanden gefallen wollen.
Sie widersprechen jedem Klischee, sind verletzend zueinander und mit Fehlern besetzt. Dadurch sind sie so nahbar, echt und liebenswert.
Das Zusammenspiel der prägnanten audiovisuellen Stilmittel zeichnen die einsame Teenagerin Leo, die sich mit ihrer alleinerziehenden Mutter verloren fühlt.
Dass ihre Mutter offensichtlich von Schuldgefühlen geplagt ist, interessiert Leo nicht mehr...
„Hi, I’m Leo.”
Leo hat eine Mission. Und sie verfolgt dies mit einer beeindruckenden Stärke und Reife. Sie will ihren leiblichen Vater (Luca Marinelli) in Italien finden, im ehemaligen Urlaubsort ihrer Mutter vor 15 Jahren.
Leos Figur ist keine stereotypische . Sie wirkt zart, aber jungenhaft.
Unscharfe Bilder, in denen Leo versinkt, während sie mit dem Zug nach Italien reist, stellen ihren inneren Zustand dar. Darin, mit der Untermalung von Kae Tempest, liegt etwas Poetisches, womit Jung den Nerv dieser Zeit trifft.
Leo schaut sich auf ihrem Ipad ein Video ihres Vaters an, Auslöser ihrer Reise, das ihre Mutter ihr gezeigt hat. Darin inszeniert er sich als Surflehrer für Kinder und Jugendliche und ideale Vaterfigur .
Leo ist eine ikonische Figur, ohne es zu wissen. Sie sucht nach ihrer Gerechtigkeit. In Italien angekommen blickt sie aufs Meer.
Leo, die Vagabundin, die einen nicht mehr loslässt.
Paolo, Leos Vater, reagiert abweisend auf sie, als sie ihn abends vor seinem Haus überrascht. Er ist in einer Lebensphase, in der er von seiner neuen Partnerin getrennt lebt und mit ihr eine weitere kleine Tochter Emilia hat. Mit ihr möchte er alles richtig machen.
Trotz dieser Kälte gegenüber Leo, die irritierend wirkt, wirkt Paolo sympathisch. Sein Lebensstil ist prekär aus Überzeugung, in einem selbstgezimmerten Haus direkt am Strand. Im separaten Wohnmobil schläft seine zweite Tochter.
Jung zeichnet ein Familienbild Italiens, das sich, wie ihre Figuren, jedem Klischee konsequent widersetzt.
Die winterliche Farbgebung, die Tristesse und Industrielandschaft, zusammen mit der Leere an den sonst mit Touristen überlaufenden Stränden, spiegelt eine andere Seite hinter einer klischeehaften Fassade wider, die bewusst gewählt wurde: als Bild eines inneren Schmerzes.
„Wusstest du, dass Flamingos Superväter sind?”
Zwischen dem Versuch, seine Tochter wieder loszuwerden, sich zu erklären, ihre Fragen zu beantworten und Leo vor seiner Exfreundin Valeria (Gaia Rinaldi)zu verleugnen, strickt sich ein kurzweiliger, intensiver Film zusammen, der durch Leos Authentizität und Verletzbarkeit, und Paolos harten Zurückweisungen sehr nahe geht.
Die besondere Kunst des Films ist es, diese entfremdete Beziehung zwischen Leo und Paolo so berührend zu erzählen. In kurzen, leisen und unspektakulären Momenten .
Dieser schmale Grat der Ambivalenz zwischen Ablehnung und Zuneigung ist eine beeindruckende schauspielerische Leistung beider Protagonisten.
Ist Paternal Love ein queerer Film? Nicht direkt. Dennoch spielt er mit den fluiden mädchen- und jungenhaften Attributen seiner Figuren. Dies zeigt sich bewusst in Leos neuem Freund Edoardo (Arturo Gabbriellini), der ein kompensierendes Element für Leo ist: Sicherlich für den stärksten Moment im Film, einer Schlüsselsequenz, in der Valeria mit Emilia auftaucht. Diese Konfrontation zeigt sich aus Leos Perspektive, in der sie von ihrem Vater verleugnet wird.
Sie könnte ihn zwar verraten, doch sie tut es nicht. Wenn Leo in einer Duschkabine am Strand ihres Vaters sitzt und das kalte Wasser auf sich prasseln lässt, während Paolo sie von draußen anfleht, nichts zu verraten, trifft das tief ins Herz. Daran Schuld ist eine hervorragende Dramaturgie, die Leo in all diesem Schmerz nicht zerbrechen lässt. Das macht diesen Film aus.
Paternal Leave, mit seinen wundervollen Darsteller*innen, ist ein versöhnlicher und liebenswerter Film, den diese Zeit braucht. Sein liberaler Geist darin befreiend. Von Stella Christine Dunze
Leo mit ihrem Vater kurz nach ihrer Ankunft vor seinem Haus.@eksystent Filmverleih
Leo mit ihrem Vater am See einer Flamingofarm. © eksystent Filmverleih
Leo mit Valerie und ihrer Halbschwester.@eksystent Filmverleih
Lilith mit den Komparsen.
Wenn Elif (Devrim Lingnau) das Filmset betritt, wirkt es, als betrete sie einen Tatort. Die Musik und die Finsternis suggerieren ein unheimliches Vorgehen, das sie beobachtet. In ihrem Auftreten signalisiert sie eine Macht; es erinnert weniger an eine Praktikantin. Was sie sieht erscheint wie ein dunkler Komplott. Yigit (Serkan Kaya) möchte die Geschichte seiner Leute erzählen. Als Regisseur hat er sich in Deutschland einen gesellschaftlichen Status erarbeitet.
Elif, die Protagonistin, zieht die Zuschauer durch ihre tiefsinnige, verletzbare und ambivalente Art in den Bann. Als türkischstämmige Deutsche bildet sie eine doppelte Projektionsfläche. Ihre deutsche Erscheinung und türkische Herkunft zeigen eine Figur der Zerrissenheit im moralischen Konflikt.
Regisseur Yigit arbeitet an einem ambitionierten Projekt: Er zeigt die Seite der Opfer von Solingen. Elif, 2. Regieassistentin, ist mit Stolz ein Teil davon.
„Helmut Kohl kam damals nicht einmal zur Beerdigung.”
Yigits Komparsen, Flüchtlinge aus einem örtlichen Flüchtlingsheim, sollen für eine Szene in das Haus zurückgehen, improvisierend, und nach dem Brand aufräumen und putzen. Es ist die letzte Szene des Films. Yigits Anweisung: Nicht schauspielern. Doch die Szene droht zu eskalieren. Ein echter Koran wurde verbrannt.
Elif wird am Ende des Tages von Lilith (Nicolette Krebitz), Ehefrau von Yigit (Serkan
Kaya) und selbst Filmemacherin, die Aufgabe übertragen, die Filmkassetten in die gemeinsame Wohnung zu bringen, in der Elif auch übernachtet.
Elif soll ausserdem, mit den Kassetten im Auto, die Flüchtlinge zunächst in ihre Unterkunft fahren.
Die Figuren vermitteln schnell ein Gefühl der Stereotypisierung, die täuscht. Yigits Absicht, eine Perspektive gegen rechts zu vermitteln, birgt automatisch eine Gefahr in sich. Doch von welcher Seite?
Elif verbringt den Abend spontan im Flüchtlingsheim und entgegen jeder Erwartung werden hier auf wohltuende Weise soziale Trennlinien aufgehoben. Elif, Filmstudentin, trifft sich mit den Komparsen auf Augenhöhe und erklärt, wie sie zu ihrem Job gekommen ist. Es ging ihr um Lilith, weniger um Yigit. Mustafa, einer der Komparsen, ist eigentlich Theaterregisseur, der am Goetheinstitut in Italien gearbeitet hat. Diese Szene ist eine der wichtigsten des Films, denn sie ist Ausgangspunkt für den Verlauf des Spannungsbogens und der späteren Motivlage. Mustafa verachtet Yigits vermeintlich guten Intentionen. Er fühlt sich provoziert und gedemütigt.
"Wie findest du Yigits Film?", fragt er. "Sehr gut. Ich finde das ist ein sehr wichtiger Film ",
entgegnet Elif, deren Hoffnung es ist, sich hochzuarbeiten.
Für Mustafa ist dieser Film lediglich Mittel zum Zweck. Einen echten Koran zu verbrennen, sei ein Zeichen der Verachtung.
Es ginge darum, einen Film für das gute Gewissen zu verkaufen. Sie seien seit jeher entweder Opfer oder Terroristen.
Yigits traumhafte Altbauwohnung wird für Elif zum Horrorszenario, nachdem der Wohnungsschlüssel und die Filmkassetten verschwinden. Es meldet sich kurz darauf ein mysteriöser Fremder mit dem Schlüssel bei ihr. Es spinnt sich ein fesselnder Thriller zusammen, der szenenweise an Hitchcock erinnert. Der Zuschauer wird durch die eigene Hysterie, anhand der stilistischen Mittel des Films, derart manipuliert und getriggert, genau wie Elif, dass es ausreicht, sich dieser Täuschung hinzugeben. Und es stellt sich die Frage: Wer im Film ist eigentlich hysterisch?
Für den Film fühlte sich Regisseur Büyüakalay von Roman Polańskis DER MIETER inspiriert.
Ihm war wichtig zu zeigen, wie auf medialer Ebene mit den Ängsten der Menschen gespielt wird. Flüchtlinge werden dämonisiert und als “Fremde” stigmatisiert.
Das Geniale an der Konstruktion dieses Thrillers ist, dass es keine Bösen gibt. Sie alle sehen sich als Opfer des anderen, getrieben von einem höheren Ideal, Gerechtigkeit und Stolz.
In diesem Wahn, der durch die Bilder der Medien entfacht wird, wie Büyükatalay sagt, ist was noch real? Und was entsteht aus alledem?
Elif vertraut sich Said an, einem Flüchtling . Kann sie ihm vertrauen? In Yigits Wohnung erzählt sie ihm eines Nachts die Geschichte ihres Vaters, der in ihrer Kindheit einen Dönerladen vor ihrer Schule betrieb. Sie spielt dies so berührend, als wäre es ihre eigene Geschichte. Wer ist der Fremde, der sich bei ihr wegen des Schlüssels meldet, aber nie kommt? Und wer hat die Filmkassetten gestohlen?
HYSTERIA regt zum Nachdenken an, denn er lässt viele Fragen offen. Die Protagonisten, in ihrer Missachtung zueinander, verbindet schließlich eines: ihre Angst.
Der Film lässt einen nicht mehr los. Er verändert die eigene Perspektive, die vom medialen Mainstream gefärbt wird. Devrim Lingnau, die als European Shooting Star bei der Berlinale 2025 ausgezeichnet wurde und bekannt durch die “Die Kaiserin” ist, spielt Elif unglaublich authentisch und durchlässig, dass man sie dafür einfach lieben muss. Sie verkörpert Macht und Schwäche sehr ambivalent, so dass sie eine breite Projektionsfläche bietet.
Und was ist Büyükatalys nächstes Projekt?
Der Regisseur, der auch Schriftsteller ist, schreibt an einem Roman. Über seinen nächsten Film verrät er nicht viel, außer dass er romantisch sein wird.
HYSTERIA, der Film der mehrfach ausgezeichnet wurde und auf der diesjährigen Berlinale lief, ist eine absolute Empfehlung und ab jetzt im Kino zu sehen.
von Stella Christine Dunze
HYSTERIA
FEUER DER VERACHTUNG
Regisseur Yigit während der Dreharbeiten.
Elif ruft Said an, nachdem sich ein mysteriöser Fremder bei ihr gemeldet hat.
Elif beobachtet Yigit und Lilith in ihrer Wohnung.
Frankfurt. Mehmet Akif Büyükatalay kam am Donnerstagabend ins Kino Mal seh'n für seinen Film HYSTERIA.
Er sprach auch mit FAMOS über seinen neuen Film. HYSTERIA ist ein genial strukturierter Thriller, dessen Spannung sich auf der Hysterie des Zuschauers aufbaut. Er ist aber vielmehr eine Gesellschaftskritik. Und die Hysterie überfällt darin jeden.
Schwarz-weiß-Aufnahmen zeigen den Einbruch von maskierten Brandstiftern, Neonazis, in eine Flüchtlingsunterkunft in Solingen.
So fühlt es sich an, wenn du schläfst und dir das letzte Vertrauen in die Menschheit genommen wird.
Alles brennt und darin das feindlichste Symbol schlechthin. Der Koran.
Regisseur Mehmet Akif Büyükatalay ist mit seinem Film etwas Geniales gelungen: Er führt seine Zuschauer durchweg hinters Licht.
Denn sein Film enttäuscht jede antizipierte Erwartung. Er setzt seine Protagonisten auf diesselbe hierarchische Ebene. Was sie verbindet, ist eine Frage der Ehre.
YIGIT und LILiTH WOLLEN EINEN FILM, DER DAS DENKEN VERÄNDERT. dafür STEHT für sie VIEL AUF DEM SPIEL.
Fotos ©filmfaust
Szenen aus dem Film HYSTERIA:
Yigits Komparsen sollen für eine Szene in die verbrannte Wohnung zurück und dabei improvisieren. Sie finden überraschend einen verbrannten Koran.
©filmfaust
Elif bittet Said, einen Komparsen, zu ihr in Yigits Wohnung zu kommen. Ein mysteriöser Fremder hat sich bei ihr gemeldet, um ihr den verschwundenen Schlüssel zur Wohnung zu bringen.
Videos und Fotos ©filmfaust
SORDA- Der Klang der Welt
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SORDA-In der Stille die Freiheit
30. Oktober. Kinostart. Eva Libertad ist mit SORDA- Der Klang der Welt ein Film gelungen, der die Weiblichkeit in ihrer gesamten
Sinnlichkeit feiert. Die Stille, in der Angela, gespielt von Libertards Schwester Miriam Garlo, gefangen ist,
verwandelt sich in eine Stärke ihrer Präsenz, die stellenweise als Fluchtpunkt interpretiert werden kann.
Der Film wurde auf der diesjährigen Berlinale mit dem Publikumspreis geehrt.
Angela, eine auffällig hübsche Frau läuft mit ihrem Hund Luka über felsige Natur zu einem Gewässer, um mit ihrem Partner Hektor (Álvaro Cervantes) nackt zu baden.
Sie besitzen zusammen einen Bauernhof, der einem Paradies gleicht. Angela und Hektor führen eine intime und liebevolle Beziehung.
Sie diskutieren über einen Namen für das Baby, das Angela in einigen Monaten erwartet.
Die Tatsache, dass Angela taub ist, wirft einen Schatten auf eine nahezu vollkommene Idylle, den beide zu verdrängen versuchen.
Ihr Haus ist mit visueller Technik ausgestattet, wie zum Beispiel die Türklingel, die pink aufleuchtet. Sie überlegen, den Eltern erstmal nichts von der Schwangerschaft
zu erzählen, als sich ihr Besuch ankündigt. Doch während sie dann auf einer von Blumen verzierten Terrasse zusammensitzen, bleibt es doch nicht geheim.
Alles wird für das Baby vorbereitet, auch wenn die Angst und das Risiko, ein taubes Baby auf die Welt zu bringen, einen andauernden Konflikt darstellen.
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Der Akt des Töpferns ist der Zugang zu Angelas innerstem Selbst
Angela verliert zunehmend die Geduld, wenn sie im Zusammensein anderer, durch deren mangelndes Verständnis, keine Rücksicht für ihre Gehörlosigkeit erfährt.
In ihrer Arbeit in einer Töpferei, die überwiegend Vasen und Planzengefäße herstellen, findet sie eine Form des Einklanges mit einer inneren Welt, die nach
Anschluss sucht. Hier findet sie Frieden.
In der Werkstatt treten plötzlich verfrüht die Wehen ein.
Die Komposition der Bilder, die Zeichen und Codes repräsentieren in ihrer Gesamtheit nicht zufällig
eine Rahmung und Hommage an die Wunder weiblicher Körperlichkeit. Angelas Gehörlosigkeit steht darin in keinem Widerspruch, außer
er wird in Form der Ausgrenzung im sozialen Umfeld hergestellt. Ihre Fähigkeit zur Mutterschaft wird durch die Zweifel der anderen
diskreditiert.
Die Schlüsselszene und der Wendepunkt des Films ist die Geburt ihrer Tochter Ona, in der sich eine Dramatik aus Schmerz, Todesangst und Neugeburt offenbart.
Mit diesem Ereignis ändert sich Angelas Wohlbefinden. Wenn Ona schreit, findet Hektor einen besseren Zugang zu ihr, während Angela nur zusieht. Sie fühlt sich zunehmend überflüssig,
während sie sich nichts mehr ersehnt als eine Nähe zu ihrer Tochter. obwohl sich Hektor als Inbild eines modernen Vaters zeigt, zieht sich Angela immer mehr zurück.
Ein Gefühl der Ausgrenzung verstärkt sich und sie überkommt eine postnatale Depression, die eskaliert.
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Die Welt mit Ona ist eine andere
Im Laufe des Films wird die subjektive Perspektive Angelas durch ihre Wahrnehmung der Geräusche intensiver. Ihr Bedürfnis nach Freiheit, Ausbruch und das Taubsein werden
zu einer Metapher der Flucht in die Stille. Der Lärm im Kindergarten, die angeregten Gespräche im Kreis von Freunden zeigen sich als belastend. Wenn Angela ihre Hörgeräte einsetzt,
hören die Zuschauer ein dumpfes Vakuum aus entfernten Geräuschen wie bei einem Tauchgang.
Angelas Liebe zu Ona vollzieht sich leiser und in einer Form visueller Kommunikation auf einer anderen Ebene.
In einer Szene geht Angela mit ihren Freunden in einen Club, während Hektor auf Ona aufpasst. Sie tanzt im rot erleuchteten Raum und bildet eine Einheit mit der Musik, die sie nicht hört.
Angelas Depression scheint teils entkoppelt von ihrer Frustration über ihre Taubheit. Der Film ist auch ein universeller Film über das weibliche Lebensgefühl, das sich
mit dem Bedürfnis nach Freiheit und Anerkennung auseinandersetzt und sozialer Ausgrenzung, die jede Form der Andersartigkeit umfassen kann.
Es geht um eine weibliche Figur, die ihre Macht über den Körper zurückgewinnt und ihre eigene Bedürfnisse wahrnimmt. Keine großen Konflikte, sondern heteronormative
Rollenbilder, die hier vorbildlich verändert und bewusst ausgeschaltet werden.
SORDA- Klang der Welt spielt ab heute deutschlandweit in den Kinos. Von Stella Christine Dunze