Ein Gespräch mit Isa Willinger über ihren neuen Film
NO MERCY
DER GNADENLOSE BLICK
Foto© Andi Müller
Meine Eltern hatten eine schöne Liebesgeschichte
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Meine Eltern hatten eine schöne Liebesgeschichte *
Ein Interview mit Carla Simón im Rahmen ihrer Deutschlandpremiere des Films ROMERÍA auf dem Filmfest Hamburg.
Meine Eltern hatten eine schöne Liebesgeschichte
FAMOS: Hallo Carla Simón. Ich freue mich sehr, mit dir heute über deinen neuen Film ROMERÍA zu sprechen. Ich gratuliere dir zu diesem bewegenden Film, der mich zutiefst berührt hat.
Der Film ROMERÍA erzählt deine subjektive Perspektive deiner Familiengeschichte. Herausgekommen ist ein sehr berührender, intimer Film, auch aufgrund der einzigartigen Ästhetik.
Er ist in zwei Tagebücher unterteilt, die ineinanderfließen und es erzählt deine Perspektive und die deiner Mutter.
Was mich wirklich beeindruckt, wie du Marinas Schmerz und Einsamkeit übersetzt, während man es ihr überhaupt nicht anmerkt, aber es durchweg spürbar ist.
Marina ist eine sehr resiliente junge Frau, die sehr reflektiert und reif ist und viel Verständnis für ihre Eltern aufbringt, die ihr viel Schmerz zugefügt haben.
Sie trägt diese Ruhe mit sich und lächelt sogar in Momenten großer Enttäuschung oder Einsamkeit. Woher kommen diese Kraft und das Mitgefühl?
Carla Simón: Ja, weil es meine eigene Geschichte erzählt, wollte ich eine Figur haben, die diese Reise in gleicher Weise erlebt, wie ich es habe.
Und ich glaube, wenn wir Filme sehen über Menschen, die nach ihrer Herkunft suchen und die biologische Familie zu finden versuchen, zu der sie gehören, dann habe ich oft den Eindruck, dass diese Reise vom Standpunkt der Wut ausgeht. Sie fühlen sich ausgeschlossen.
Aber ich wollte es anders machen. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die mir sehr viel Liebe gegeben hat. Und ich hatte einen Onkel und Tante, die ich sogar Mama und Papa genannt habe. Ich hatte Geschwister.
Aus diesem Grund ist Marina, als sie sich entschließt, die leibliche Familie väterlicherseits aufzusuchen, einfach neugierig. Sie tut es nicht aus Ärger. Und sie möchte einfach wissen und verstehen, warum und wie die Liebesgeschichte ihrer Eltern war. Diese Neugier kann ein Motor großer Geschichten sein. Zumindest ist es das, was mich antreibt, auch als Regisseurin und Filmemacherin. In Bezug auf das Narrativ ist es kein Konflikt, weißt du, und deswegen trifft sie all diese Angehörigen. Und sie alle fühlen Schmerz, wenn sie an meinen Vater denken. Aber Marina ist sehr offen dafür, um zu verstehen, was passiert ist. Um dieses Puzzle zu vervollständigen.
FAMOS: Ist das Filmemachen über deine eigenen Themen auch eine Art Heilungsprozess?
CS (lacht): Ja, das sagt man ja immer. Wenn du eine Therapie brauchst, gehst du lieber zu einem Psychologen, weil es wesentlicher günstiger ist, als einen Film zu drehen. Es ist nicht so, dass ich diesen Film unbedingt darum machen musste. Aber mir ist bewusst, dass es nicht nur meine eigene Geschichte ist.
Es ist die Geschichte der Generation meiner Eltern. In Spanien ist das sehr vielen Menschen so gegangen. Sie sind während der Franco-Diktatur groß geworden, mit viel Unterdrückung. Als Franco dann starb und die Freiheit kam, war das eine super glückliche Zeit, basierend auf dieser gewonnenen Freiheit und sie haben es gefeiert, ohne die Konsequenzen zu kennen, wie zum Beispiel von Drogen, wie Heroin. Sie wussten auch nicht, dass AIDS kommen würde. Viele starben dadurch. Dies war mir wichtiger als der Punkt, dass es auch meine eigene Geschichte war.
Es kommt aber auch etwas durch meinen Frust, nicht richtig zu wissen, was mit meinen Eltern geschah.
Und wenn ich versuchte, diese Teile, die ich kannte, irgendwie zusammenzufügen, gerade weil es dieses Tabu und Stigmatisierung über Heroin und AIDS gibt, ist es sehr schwer, diese Erinnerung herzustellen. Und zu realisieren, dass das Gedächtnis sehr subjektiv ist. Der Film ist eine Reflektion über die Erinnerungen.
Für mich ist Kino, diese Erinnerungen, mit diesen ganzen Bildern, die mir fehlten, wiederherzustellen. Es war sicherlich ein Akt der Befreiung von dieser Vergangenheit.
FAMOS: Der Film ist in zwei Tagebücher unterteilt, einmal in deine 4-tätige Reise, in der du in der Familie deines Vaters forschst, und die Tagebucheinträge deiner Mutter. Warum hast du es so strukturiert? Es fühlt sich so an, als seist du deiner Mutter viel näher. Stimmt das?
CS: Ja. In Wahrheit habe ich keine Erinnerungen an meine Mutter. Ich hatte ein paar Briefe an Freunde und Familie, die sie geschrieben hat, als sie in Vigo war. Diese Briefe waren für mich wahrscheinlich das Wichtigste, um mich meiner Mutter näher zu bringen. Ich konnte sie hören, wie sie sprach und erzählte, wie sie lebt. Ihre Beziehungen, ihr Verhältnis zu Drogen. Und auch über ihre Generation. Und das wollte ich alles in den Film packen. Ich mag die Idee von Tagebüchern, weil es viel von uns selbst erzählt.
Also, Marina geht mit diesen Tagebüchern los, weil es das Einzige ist, was sie hat. Und dadurch, dass sie an dieselben Orte geht, über die sie gelesen hat, ermöglicht das ihr, diese Tagebucheinträge mit Bildern zu füllen und sich die Vergangenheit vorzustellen. Und ja, gleichzeitig hat sie ihre eigenen Erinnerungen und sie hat auch einige Fragen. Sie sucht nach Antworten, die ihre Familie betreffen.
FAMOS: Aber die Tagebucheinträge im Film sind autobiografisch?
CS: Nein, sie sind fiktiv. Ich selbst habe nie Tagebuch geschrieben.
Weißt du, im realen Leben habe ich diese Reise nicht gemacht. Als ich 18 Jahre alt war, habe ich einige meiner Onkel getroffen. Sie wohnten übrigens in Madrid. Und später traf ich meine Großeltern. Und einige Jahre später traf ich den Rest meiner Angehörigen in Galicien. Der Film ist fiktiv, er basiert auf meinen Gefühlen, meinen Fragen, meinen Erinnerungen.
FAMOS: Es gibt eine wahnsinnige Ähnlichkeit zwischen dir und deiner Mutter.
Es ist als wärt Ihr dieselbe Person. Sie wird auch von derselben Schauspielerin gespielt. In einer Szene wird das besonders deutlich als deine Mutter mit deinem Vater in einer Sonnenliege liegt, ich sage du, ich meine Marina. Sie steht daneben und sie ist praktisch deine Mutter. Was bedeutet es in Bezug auf die Beziehung zu deiner Mutter?
CS: Also, im echten Leben sehe ich nicht wie meine Mutter aus. Ich sehe meinem Vater ähnlich. Aber in der Dramaturgie des Films war es besonders interessant für mich, dass Marina wie ihre Mutter aussieht, weil es ein bisschen wie ein Geist war, der aus der Vergangenheit kommt. Und diese Frau, von der sie dachten, dass sie ihren Sohn gestohlen hat, und auf den falschen Weg brachte, kommt auf einmal mit Fragen zurück.
Aber das ist nicht der Grund, warum Marina auch gleichzeitig ihre Mutter ist.
Ich habe kein großes Familienarchiv. Ich habe nur ein paar wenige Fotos von meiner Mutter, Super 8 Videos von meinem Vater. Ich habe nicht genug Bilder in meinem Kopf, um sie mir in einer Liebesgeschichte vorzustellen.
Also war es eher natürlich, dass Marina sich als ihre Mutter vorstellte.
Und ihren Vater wie ihren Cousin, den sie sehr mag, weißt du. So kann sie die Geschichte ihrer Mutter in ihrer eigenen Haut erleben.
FAMOS: Wie ist die Beziehung zu ihrer Adoptivmutter? Im Film wirkt es so als würde sie sich eher distanzieren.
CS: Ja, wenn du deine eigene Familie hast und das Gefühl entwickelst, du musst so eine Reise unternehmen, entsteht automatisch ein Konflikt. Deine Adoptiveltern fragen sich, was du vielleicht fühlen wirst. Es ist immer schwierig, wenn dein Kind so etwas tut. Aber im Fall von Marina, hat sie eine wirklich gute Beziehung zu ihrer Adoptivmutter, aber wenn sie auf dieser Reise ist, findet sie so viele Dinge heraus, aus der Sicht ihrer Mutter, und dann entdeckt sie die Seite ihres Vaters. Und das passt natürlich nicht mehr zusammen.
Darum hinterfragt sie einige Dinge. Natürlich ist das für ihre Mutter hart. Ich glaube, sie ist in diesem Alter, dass sie allein sein möchte. Ihre Adoptivmutter versteht das, aber das heißt nicht, dass sie nicht leidet.
FAMOS: Ich habe mich zuerst gefragt, ob es einen familiären Hintergrund gab, der diese Unfälle oder Drogenmissbrauch verursachte. Dass etwas Grundlegendes nicht funktionierte.
CS: Nein. Ich meine, wenn Leute mit Drogen anfangen, dann gibt es immer einen Grund. Wenn du abhängig wirst, liegt das Problem meistens woanders.
Aber es ist auch wahr, dass in dieser Zeit in Spanien, viele Drogen in das Land kamen. Und in Galicien, wo mein Vater lebte, gibt es eine sehr komplizierte Küste. Alle Drogen kamen darüber, weil es für die Polizei schwierig war, es zu unterbinden. Es gibt auch Theorien in Spanien, dass die Regierung nicht viel tat, um die Einfuhr von Drogen zu verhindern, weil wenn sie drogenabhängig sind, können sie sich nicht mit der Politik beschäftigen. Es war damals ein sehr heikler Moment. Es gab eine Heroinkrise. Es gab viele Abhängige. Und auch unterschiedliche Familien.
Man denkt immer, Heroin trifft nur auf Leute der Unterschicht. Aber das stimmt nicht. Die Familie meines Vaters war so eine Art Upperclass.
In diesen Familien ist es wichtig, den sozialen Status zu behalten.
Es ist schwer, sowas zu akzeptieren.
FAMOS: Es gibt eine Sequenz in dem Film, in der Marina ein Fest verlässt. Da ist eine Katze, die sie verfolgt und zu ihrer Mutter führt. Führt diese Katze sie in die Vergangenheit, eine Art Traum? Ihre Mutter hatte dieselbe Katze in ihrem Video-Tagebuch. Sie klettert dann dieses Hochhaus hoch an einer Strickleiter, und sie sieht ihre Eltern dort zusammen sitzen auf dem Dach.
Sie sagen zu ihr, sie waren nie tot, aber versteckt worden. Das war sehr berührend.
Kannst du etwas darüber sagen?
CS: Ja, meine Mutter spricht viel über ihre Katze in ihren Briefen. Ihr Name war Fernandez. Also war es wichtig für mich, dass dieses Paar eine Katze hatte. Marina versucht ja die Geschichte zusammenzubringen durch die Erzählungen der anderen in der Familie. Sie merkt, dass es irgendwie nicht zusammenpasst, also strickt sie sich selbst etwas zurecht. In diesen Vorstellungen wollten wir, dass man spürt, dass sie in eine andere Welt kommt. Für mich war die Katze eine nette Möglichkeit dafür. Sie hat die Katze ja vorher im Boot ihres Vaters gesehen, erinnerst du dich? Die Idee, dass sie ihre Eltern dort findet, und sie sagen, dass sie nie tot waren, sondern geschlagen wurden.
Das ist wirklich ein Traum, den ich hatte. Dass ich meine Mutter treffe, und sie erzählt mir, dass sie nie tot war. Es hat auch damit zu tun, dass das Gedächtnis dieser Generation versteckt wurde. Die Familien fühlen über die Verluste dieser Menschen viel Schmerz. Weil dieses Thema ein Tabu war, spreche ich davon, dass sie versteckt wurden. Darum sage ich auch, dass Marinas Vater geschlagen wurde.
FAMOS: Also er wurde wirklich geschlagen?
CS: Ja.
FAMOS: Diese Szene, in der sie auf das Dach steigt. Wie habt ihr das gedreht? Sie ist da nicht wirklich hochgeklettert.
CS (lacht): Nein! Das ist Specialeffekt. Wir drehten auf dem Dach und hatten einen Spezialisten, der das machte. Und dann haben wir es zusammengebaut.
FAMOS: Denkst du, dass der Film eine sozialkritische Aussage trägt? Weil Marinas Eltern auch gegen soziale Normen gelebt haben? Sie wurden nicht akzeptiert von der Familie.
CS: Ja, ich verstehe. Marina kritisiert ihre Eltern nicht. Sie romantisiert sie auch nicht. Es war hart, aber sie hatten eine schöne Liebesgeschichte. Obwohl wir das nicht wirklich wissen. Sie entscheidet es. Sie erfindet auch eine Geschichte, um ihre Vergangenheit zu definieren und zu verstehen, woher sie kommt. Es ist eher das Gegenteil einer Kritik. Es ist eher eine Feier dieser Generation. Menschen haben damals Strafen verübt, Schande usw., um über diese Generation zu sprechen, weil sie nicht akzeptiert wurden. Für mich als Tochter denke ich, dass es ungerecht ist. Sie sind diejenigen, die mit diesen konservativen und katholischen Werten gebrochen haben und brachten neue Ideen ein. Sie wurden zum Schweigen gebracht wegen dieser Drogengeschichten. Aber ich finde, wir müssen sie feiern, weil wir heute etwas haben, dass sie damals für uns durchbrochen haben. Spanien stand damals weit hinter dem Rest Europas.
FAMOS: Wie verändert dieser familiäre Hintergrund dein persönliches Leben? Ich habe gehört, du hast gerade ein Baby bekommen.
CS: Ja, ja. Ich dachte, du meinst die Geschichte meiner Familie väterlicherseits. Wenn du Kinder hast, ich habe jetzt mein zweites Kind, ich schaue mehr in die Zukunft als die Vergangenheit. Ich nehme die Geschichte meiner Eltern komplett an, sie definiert mich. Es wird auch meinen Kindern zugutekommen. Ich weiß gar nicht, wie es mich verändert. In meiner Familie gab es viele Väter, ich habe eine sehr große Familie. Es ist voller komplexer Beziehungen, weißt du. In vieler Hinsicht. Das hat wahrscheinlich die Leidenschaft für das Filmemachen geweckt (lacht).
FAMOS: Ich habe mich gefragt, ob es wirklich stimmt, dass dein Großvater sich geweigert hat, dass Dokument zu unterschreiben, das dich als leibliche Tochter deines Vaters anerkennt?
CS: Nein. Es stimmt, dass ich ein Dokument brauchte zu einer Zeit. Aber es ist eher etwas, das für den Film funktionierte. Es war für mich eine schöne Möglichkeit, diese Reise Marinas zu erklären.
FAMOS: Dieser Moment als er dir diesen Umschlag mit dem Geld gab, so dass du Film studieren kannst. Ist das wirklich passiert?
CS (lacht): Nein, das ist nicht passiert. Ich habe nie einen Umschlag bekommen.
FAMOS: Dein vorheriger Film FRIEDAS SOMMER im Jahr 2017 wurde auf der Berlinale aufgeführt und hat viele Auszeichnungen gewonnen. Auch ALCARRAS (2022) , der den Goldenen Bären gewonnen hat, und dieser Film wurde auf dem Cannes Filmfestival im Hauptwettbewerb. Wie reagiert deine Familie auf diesen Erfolg?
CS: Wir nehmen es so, wie es kommt. Ja, sie sind stolz. Sie sind auch Teil davon, weißt du. Meine Mutter ist sehr gut im Drehbuch schreiben. Sie liest meine Drehbücher. Mein Bruder ist Musiker. Er hat die Filmmusik gemacht. Meine Schwester ist Schauspielerin, sie hat in meinen beiden ersten Filmen mitgespielt. Sie hat mir in diesem Film als Coach geholfen. Sie sind also sehr involviert. Einer meiner Onkel spielt übrigens in ROMERÍA mit.
FAMOS: Hast du schon Pläne für dein nächstes Projekt?
CS: Ich kann nicht viel verraten, aber diese drei Filme sind sozusagen eine Einheit. Jetzt muss etwas Neues kommen. Wir machen etwas mit Flamenco-Musik. Es hat nichts mit meiner Familie zu tun.
FAMOS: Danke dir sehr für dieses Interview. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht. (Interview: Stella Christine Dunze)